„Ohne Praxis ist es schwer“ – Interview mit GM Vitaly Kunin

Der aktuelle Deutsche Meister GM Vitaly Kunin ist in der Schach-Szene seit vielen Jahren eine feste Größe. Doch zuletzt hat der gebürtige Moskauer nicht mehr so häufig am Brett gesessen. Warum das so ist und wieso er jetzt beim 2. Internationalen Brühler Open (02. – 04.02. 2024) an den Start geht, berichtetder sympathische Großmeister in unserem Interview.

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Du hast 2023 die Deutschen Meisterschaften gewonnen. Ist das Dein größter Erfolg als Schachspieler?

Kunin: Rein vom Titel her ist die Deutsche Meisterschaft wahrscheinlich mein größter Erfolg. Ich hatte schon einige Male bei der Deutschen Meisterschaft mitgespielt und war schon mehrmals sehr nahe am Titel dran. Aber jetzt hat es geklappt. Meine größte Leistung im Schach ist dieser Titel aber nicht. Denn das Turnier war nicht so stark besetzt, weil die besten deutschen Spieler nicht dabei waren. Sportlich gesehen ist mein bestes Ergebnis wohl die Europameisterschaft 2017 in Minsk, bei der ich mich für den World Cup qualifiziert habe.

Du bist in Moskau geboren – und lebst jetzt seit vielen Jahren in Deutschland. Wie kam es dazu?

Kunin: Ich habe in Moskau die Schule beendet und bin dann mit meinen Eltern und meiner Schwester nach Darmstadt gezogen. Das war 2001. Dann bin ich zunächst zurück nach Moskau und habe dort Linguistik studiert, bin dann aber mit meiner ersten Frau wieder nach Deutschland gegangen. Unser Sohn wurde hier 2014 geboren. Über die ganze Zeit war mein Leben immer eng mit Schach verbunden.

Würdest Du Dich als Schachprofi bezeichnen?

Kunin: Nein, jetzt nicht mehr. Denn seit gut einem Jahr arbeite ich als Berater für die SAP-Buchhaltungssoftware. Ich spiele weniger als zuvor und habe nicht mehr so viel Zeit für Schach.

Du hast nie in der Schach-Bundesliga gespielt, warum nicht?

Kunin: Ja, das stimmt. Ich spiele seit 22 Jahren für meinen Verein Freibauer Mörlenbach-Birkenau (Odenwald/Hessen). Wir spielen aktuell in der Oberliga Ost, haben aber es auch schon einige Male in der 2. Bundesliga geschafft. Natürlich habe ich hin und wieder Anfragen aus der Bundesliga, aber in meinem Verein passt einfach alles. Sicher, in der Bundesliga trifft man auf viel stärkere Spieler, aber ich habe in meiner Schachkarriere schon gegen sehr viele starke Schachspieler gespielt.

Das Internationale Brühler Open findet in diesem Jahr erst zum zweiten Mal statt – ist also ein Newcomer im Turnierkalender. Was hat Dich bewogen, nach Brühl zu kommen?

Kunin: Gefunden habe ich das Turnier im Internet – und ich habe mich entschieden mitzuspielen, weil mir aktuell die Spielpraxis fehlt. In Brühl geht das Turnier nur über drei Tage. Das passt mir gut, weil ich nicht mehr so viel Zeit habe. Hinzu kommt: Das Preisgeld ist für ein Wochenend-Turnier sehr attraktiv.

Was macht für Dich ein gutes Turnier aus – und gibt es auch etwas, was Du bei Turnieren gar nicht magst?

Kunin: Mir ist vor allem eine gute Stimmung wichtig. Klar, am Anfang habe ich – wie alle - gute Laune und danach hängt es davon ab, ob ich gut gespielt habe (lacht). Was ich nicht mag? Wenn es laut ist - und wenn es zu wenig Platz gibt.

Bei einem Open wie in Brühl treffen nicht nur Großmeister aufeinander, sondern Spielerinnen und Spieler aller Spielstärken. Du arbeitest ja gelegentlich auch als Trainer: Welchen Tipp hast Du für Amateure, wie können sie besser werden?

Kunin: Ohne Praxis ist es schwer. Man muss Turniere spielen. Ich glaube auch, dass viele Amateure sich zu viel mit Eröffnungen beschäftigen und sich zu sehr auf den Computer verlassen. Die schalten den Computer ein und analysieren die Stellung. Und wenn der Computer +1 oder +2 anzeigt, und sie dann trotzdem verlieren, dann ärgern sie sich. Ich beziehe immer alle Faktoren mit ein. Zum Beispiel die Frage: Für wen ist die Stellung einfacher zu spielen? Es kann sein, dass eine Stellung objektiv schlechter ist, aber die Züge einfacher zu finden sind. Auch die Zeit auf der Uhr spielt natürlich eine wichtige Rolle. Ein bekannter Trainer hat einmal gesagt: 60 Prozent des Erfolgs hat mit guten Zügen zu tun, der Rest sind andere Faktoren; zum Beispiel, ob Du gut ausgeschlafen bist oder ob Du gute Laune hast.

Für Amateure bieten Open die Chance, auch einmal gegen einen GM oder IM zu spielen. Natürlich haben sie meist keine Chance, würden aber gerne die Partie im Anschluss mit den Profis besprechen. Machst Du das nach einer Partie gegen unterklassige Gegner?

Kunin: Wenn nur eine Partie an dem Tag gespielt wird, mache ich das immer, wenn der Gegner fragt. Wenn man aber zwei Partien am Tag spielt und man sieben oder acht Stunden am Brett sitzt, dann ist das etwas anderes. Dann muss man nach der Partie noch etwas essen und sich etwas erholen, dann ist manchmal schwierig. Da sollte man die Profis schon verstehen. Aber klar, eine ganz kurze Besprechung geht auch dann für mich in Ordnung. Wenn ich aber gegen einen nominell klar schwächeren Spieler verliere, dann will ich die Partie meist nicht analysieren. Dann ist bei mir der Frust so groß, dass ich erst einmal Abstand brauche (lacht).

Du kommst aus Moskau und lebst seit vielen Jahren in Deutschland. Hat sich seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine für Dich in der Schach-Szene etwas geändert?

Kunin: Nein, es hat sich für mich nicht viel geändert. Meine Mutter kommt aus der Ukraine. Meine zweite Frau auch. Ich habe Kontakt zu beiden Ländern. Natürlich ist die Situation katastrophal. Aber bei den Schach-Turnieren hat sich für mich nichts geändert. Und auch außerhalb der Schach-Szene habe ich keine Schwierigkeiten. Nach wie vor sind alle höflich zu mir. Darüber bin ich sehr froh.

Die Fragen stellte Holger Hank (Twitter/X: @seitenschach)

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